MvR verwundet am Hinterkopf
Event ID: 414
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06 July 1917
Source ID: 58
Der Morgen des 6. Juli dämmert herauf, es wird einen fast wolkenlosen, schönen Sommertag geben. Und wie täglich, so ist auch heute in aller Frühe schon erhöhte Startbereitschaft.
In früheren Zeiten hat der grüne Tisch z. B. befohlen: Staffel soundso fliegt von 8-9 Uhr. Der Kommandeur haßt den grünen Tisch wie die Pest, er setzt seine Staffeln ein, wenn es notwendig ist. Dann aber in einem Höllentempo. Die Maschinen stehen ausgerichtet, die Führer vollständig angezogen daneben, die Monteure bereit, in jeder Sekunde den Propeller anzuwerfen. Kommt der Startbefehl, kann die Staffel innerhalb einer Minute abbrausen.
Und der Befehl kommt: Vor Ypern lebhafte Tätigkeit feindlicher Artillerieflieger. Kurze Kommandos, die Monteure werfen sich in de Propeller, der Sturmgesang der Motoren donnert die Reihe entlang, dann wippen die Flugzeuge über das Feld, heben sich sanft vom Boden. Jagdstaffel 4 ist gestartet. Jagdstaffel 4 kommt bald wieder zurück. Die Artillerieflieger haben sich schleunigst verzogen.
Gegen 10.30 Uhr aber läuft die Meldung des Luftschutzoffiziers ein: Infanterieflieger! Diesmal sind es die roten Maschinen, die am Startplatz stehen. Jagdstaffel 11 mit dem Kommandeur fliegt an die Front.
Zunächst entdeckt der Rittmeister, bevor er sich mit den Infanteriefliegern beschäftigt, ein Geschwader von Vickersflugzeugen. Es sind Bombenflieger mit zwei bis drei Mann Besatzung. Und das sind gerade die Wespen, die Richthofen liebt, sie kommen ihm genau zurecht. Er weicht mit der Staffel weit aus, um sie erst einmal vorbei zu lassen. Er tut ihnen noch nichts, sie sollen sich ruhig ins Hinterland begeben, er belästigt sie nicht. Und die Engländer brummen gemütlich und sauber ausgerichtet ins deutsche Hinterland. Bis sie plötzlich zwischen sich und ihrem Heimweg ein leuchtend rotes Gefunkel entdecken. Der Rückweg ist ihnen abgeschnitten. Und der Tanz beginnt, ein böser Tanz in dreitausend Meter Höhe.
Der Rittmeister nähert sich dem hintersten Flugzeug, setzt sich auf die unsichtbaren Geleise, auf denen jenes dahinschwebt. Er hat Zeit, sich zu überlegen, wie es diesmal zu machen sei, denn er ist noch über 300 Meter entfernt. Er braucht noch nicht einmal seine Maschinengewehre zu entsichern. Er sieht, daß der Engländer abdreht und der Beobachter zu schießen beginnt. Aber das macht weiter keinen tiefen Eindruck auf ihn, denn auf diese Entfernung kann er ja nicht… und in diesem Augenblick bekommt er einen Hammerschlag auf den Kopf. Innerhalb einer Sekunde, wie von einem elektrischen Schlag gerührt, wird sein ganzer Körper bewegungs- und empfindungslos. Er spürt sich nicht mehr, er spürt keine Arme, keine Beine, nichts, er schwebt in einer schrecklichen unbegreiflichen Leere und gleichzeitig wird es dunkel um ihn her, eine schreckliche, unbegreifliche Dunkelheit. Er kann nichts mehr sehen, er ist blind geworden. Der Schuß hat seinen Gehnerv gestört.
Und damit ist es wohl aus. Der Rittmeister von Richthofen braucht in dieser Welt nichts mehr zu tun. Aber er tut doch etwas. Mit der gesammelten Seelenstärke, die er zur Verfügung hat, überwindet er zunächst einmal den katastrophalen Eindruck, den der unerwartete Schuß, die Lähmung und die plötzliche Erblindung in ihm ausgelöst haben. Er überwindet mit zusammengebissener Energie den Schock. Und nach einer Ewigkeit fühlt er wieder seine Finger, seine Hände, tastet um sich, stellt das Gas ab und nimmt die Zündung heraus, zerrt sich die Brille von den Augen, reißt die Lider auf, soweit er kann. Aber er sieht nichts, nicht einmal die Sonne.
Dagegen spürt er, wie die Maschine stürzt, sich wieder fängt, wieder stürzt, es ist nichts zu machen. Er zwingt sich zu überlegen, wie tief er schon gestürzt sein kann und er schätzt, daß er bis auf zweitausend Meter heruntergekommen ist. Er kann nicht sehen, daß die Staffel 11 etwas verwundert den merkwürdigen Kapriolen des Kommandeurs zusieht und dann etwas beunruhigt wird und daß zwei Flugzeuge der Staffel, dei Leutnants Niederhoff und Brauneck, mit ihm heruntergehen und sich in seiner Nähe halten.
Das Gemeine ist diese Blindheit…es ist einfach nichts zu sehen…aber auf einmal beginnen schwarze und weiße Punkte vor seinen Augen zu tanzen und er reißt wieder die Lider in die Höhe, es wird besser. Er kann schon die Sonne sehen. Geradewegs in die Sonne. Er sieht das blitzende Gestirn wie durch eine schwarze Brille. Das genügt ihm. Er zwingt seine Augen, genauer zu sehen. In einer furchtbaren Anstrengung zwingt er sie, ihm zu gehorchen, sehen müssen sie, sehen, sehen! Sie gehorchen. Er kann jetzt den Höhenmesser ablesen. Achthundert Meter noch. Er kann die Maschine fangen. Er geht im Gleitflug nach unten. Die Augen sind soweit wieder in Ordnung, daß er das Gelände überschauen kann. Es ist eine einzige Kraterlandschaft von Granatlöchern. An landen nicht zu denken. Sein Kopf ist so hundemüde, daß es eine Erlösung für ihn wäre, jetzt einfach einzuschlafen. Er starrt in die Gegend, er erkennt an der Form eines Waldstücks, daß er sich innerhalb der deutschen Front befindet. Und dann grübelt er einige Sekunden darüber nach, warum der Engländer, der ihn angeschossen aht, nicht hinter ihm herkommt, es wäre eine Kleinigkeit gewesen, den verwundeten Deutschen abzuschießen. Der Rittmeister kann nicht wissen, daß in seiner Nähe die beiden Maschinen von Niederhoff und Brauneck sich aufhalten, sie haben ihn beschützt und gedeckt. Und nun könnte man ja landen. Er geht auf 50 Meter herunter. Es ist nicht möglich, Trichter neben Trichter. Und der halbgelähmte und halbblinde Mann gibt noch einmal Gas und fliegt weiter anch Osten, sehr niedrig, und das geht auch eine ganze Weile gut, bis er merkt, daß wieder die Dunkelheit über seine Stirne gekrochen kommt und eine Schwäche durch seine Glieder zieht, die er nicht mehr überwinden kann.
Es ist die höchste Zeit.
Einige Meter über der Erde rennt er einige Telephonleitungen und Pfähle um und dann setzt dieser wunderbare Flieger seine Maschine so sanft und leicht wie einen Schmetterling auf den Boden.
Es ist geschafft. Er steht auf und will aussteigen, aber er fällt aus dem Sitz heraus, er will sich wieder aufrichten, aber er bleibt doch lieber liegen. Neben ihm sind die beiden anderen Maschinen gelandet, die zwei Leutnants springen heraus, sausen hin und die leisen Flüche, die sie ausstoßen, sind sozusagen Dankesflüche, wenn es so etwas gibt. Der Kommandeur hat nur einen tüchtigen Streifschuß am Kopf, Himmelsakrament, Gottseidank, verdammt nochmal.
Ein Verband, nach dem Sanitätswagen telephoniert… Auf dem Flugplatz in Marckebeeke sthen zu der Zeit, da die Staffel von ihrem Flug zurückgekommen soll, einige Herren am Scherenfernrohr. “Da sind sie”, sagt der Adjutant, “eins, zwei, drei, vier…sechs…” dann hört er auf zu zählen, schweigt. “Wiseo sechs…”, murmult ein anderer. Ja, wieso sechs? Neun sind weggeflogen. Wo sind die drei anderen? “Der Kommandeur dabei?” fragt einer.
Er bekommt keine Antwort. Und weiter fragt auch keiner, aber als die erste Maschine aufsetzt, jagen sie hin. Es ist der Leutnant Wolff, der von oben den ganzen Vorgang beobachtet hat. Er berichtet rasch. Sie starren auf seinen Mund.
“Niederhoff und Brauneck sind bei ihm”, schließt er. Der Oberleutnant Bodenschatz eilt zum Telephon. Kaum ist er dort eingetroffen, ruft schon Niederhoff an und berichtet, daß der Rittmeister weggeschafft worden sei, wohin wisse er nicht. Um 12 Uhr ruft das Feldlazarett 76 St. Nikolaus aus Kortryk an. Der Rittmeister sei dort eingeliefert worden.
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